Das Französische Gymnasium war eine Oase und Deutschland war eine Wüste

 

 

Ein Gespräch der Bösen Wölfe mit dem Pädagogen Hartmut von Hentig.

Prof. von Hentig war vor vielen Jahren, während der Zeit des Nationalsozialismus (1933-45), Schüler auf unserem Gymnasium. Er besuchte es jetzt wieder, um mit uns zu sprechen. Wir wollten wissen, wie es damals war...

 

Herr von Hentig, was ist ein Pädagoge?
Es ist einer, der junge Menschen in das komplizierte Leben einführt, das wir haben. Stellt euch einen Menschen im Urwald vor, der muss nicht einmal wissen, wo die Bananen wachsen – das sieht er ja. Auch wo das Wasser fließt, muss ihn keiner lehren, er hört es. Aber wir – allein, um uns in Berlin zurechtzufinden... Oder in einem Supermarkt! Man will ja nicht nur wissen, was das hier ist und wozu man jenes braucht, sondern auch, wo es herkommt und warum es soviel kostet. Man braucht also zunächst Menschen, die einem dabei helfen. „Versuch und Irrtum“ ist ein anderer Weg, und Prügel sind ein dritter. Pädagogen wollen einem das ersparen.

Wann waren Sie auf dem Französischen Gymnasium?
Ich bin im November 1937 ans FG gekommen; ich war gerade zwölf und kam in die Quarta. So nannte man das damals – die dritte Gymnasialklasse.

 

Sagte man früher auch FG zum Französischen Gymnasium?

Ja. Eigentlich wollte ich euch fragen, ob ihr’s noch so nennt.

Konnten Sie damals schon französisch?
Ja. Man lernte es im ersten Jahr. Von da an wurde aller Unterricht außer den naturwissenschaftlichen Fächern auf Französisch erteilt – wie wohl heute auch!

Wie viel waren Sie in Ihrer Klasse?
Wir waren ungefähr dreißig. Die unteren Klassen waren recht groß und wurden nach oben hin immer kleiner. Eigentlich müsste es umgekehrt sein. Große Schüler müssen gelernt haben, zusammen mit vielen anderen zu arbeiten.


Waren auch Mädchen dabei?
Als ich kam, gab es in der Quarta drei oder vier Mädchen auf etwa sechsundzwanzig Jungs.


Die armen!
Im Gegenteil! Alles Seltene wird ganz von allein wertvoll. Als Cäsar den römischen Senat entmachten wollte, hat er ihn von 300 Senatoren auf 3000 erweitert. Der Einzelne verlor so an Bedeutung. Die wenigen Mädchen in unserer Klasse wurden schon deshalb respektiert, später sogar umworben.


Sprachen Sie über Krieg im Unterricht?
Nicht im Unterricht, da geht es nicht um Tagesereignisse. Vergangene Kriege wurden ausführlich behandelt, und wenn es darum ging, ob der Erste Weltkrieg von Russland oder von Deutschland verschuldet oder ob sein Ausgang falsch gewesen sei, dann bezog man das auch auf den Zweiten Weltkrieg. Dass die Deutschen „nicht ganz unschuldig waren“, das konnte man am FG durchaus lernen.


Unter Schülern haben Sie viel darüber gesprochen?
Nur unter Freunden. Ich glaube, ich sollte die Umstände etwas genauer schildern: Im Krieg mussten fünf bis sechs Schüler der oberen Klassen in der Schule übernachten und Feuerwache halten. Sollten Brandbomben ins Dachgeschoss fallen, konnte man sie meist noch löschen. Wir bekamen dafür zwei Mark pro Nacht und rissen uns um diesen Posten. Wir spielten dann bis tief in die Nacht Skat und machten während des Alarms unsere Kontrollrunden. Natürlich haben wir bei solchen Gelegenheiten über den Krieg geredet – welchen Verlauf er nahm und ob wir noch eingezogen werden würden.


Gab es französische Lehrer auf dem FG?
Ja. Gerade nachdem Frankreich besiegt worden war, kamen französische Lehrer an unsere Schule. Ich weiß nicht, wie freiwillig. Das konnten wir sie ja nicht fragen, ohne sie und uns zu gefährden.

War der Hitlergruß Pflicht auf dem FG?
Von einem bestimmten Zeitpunkt an war er Pflicht. Das heißt also, die Schulstunde begann mit Heil Hitler. Mein Lehrer Lindenborn, er war unser Klassenlehrer, war ein Christ, war ganz und gar gegen die Nazis – und unterlief diese Regel. Er kam mit dem Schlüsselbund in der Hand ins Klassenzimmer, streckte die Hand über dem Lehrerpult aus, ließ die Schlüssel fallen – so. Dann versicherte er sich: „Gegrüßt habe ich doch schon, nicht wahr?“ Und meinte damit den Hitlergruß. Dann sagte er: „Scheußliches Wetter heute. Darum wünsche ich euch ganz nachdrücklich einen schönen guten Morgen.“


War Ihnen eigentlich bekannt, was mit Juden damals passierte?
Ja. Mein Vater arbeitete im Auswärtigen Amt. Er bekam jeden Tag einen ganzen Stapel Auslandsnachrichten, die er „von Dienst wegen“ lesen musste. Er nahm diesen meist mit nach Hause und legte sie auf seinen Schreibtisch, wo ich meine Schularbeiten machte. Ich bin überzeugt, es war seine Erwartung, dass ich diese Nachrichten lese. So wusste ich Bescheid und er konnte mit mir darüber reden.


Was haben Sie als Kind von der Nazi-Diktatur mitbekommen?
Ich hatte das Glück, einen Vater zu haben, der sich in politischen Dingen auskannte. Er wusste, dass die Nazis Dummköpfe waren und was für Barbaren! Am 1. September 1939 kam er etwas später nach Hause. Wir saßen am Mittagstisch, und er schwieg, was er sonst nie tat. Er löffelte seine Suppe und sagte – ich höre noch den Löffel auf den Tellerrand fallen, so klick – und sagte: „Es kann uns nichts Schlimmeres passieren, als dass wir diesen Krieg gewinnen.“ Dann stand er auf und ging hinaus. Mit diesem Bewusstsein habe ich den ganzen Krieg durchlebt.


Waren auch Juden in Ihrer Klasse?
Ja, bis 1938 doch sehr viele. Ich habe hier ein Foto unserer Klasse im Jahr 1935 mit einer Liste der Namen. Ihr könnt zählen, wie viele es waren.

 

Acht Juden und ein "Halbjude".
Ich habe sie nicht mehr alle gekannt. Etliche von ihnen sind in der Zeit, bis ich 1937 dazukam, schon ins Ausland gegangen. Mit zwei von ihnen treffe ich noch immer alle zwei Jahre zusammen – mit Max Petschek und Victor Schneider.


Gab es nach 1938 auch jüdische Schüler?
Nein. Victor Schneider war der letzte, der ging. Es blieb nur noch Klaus Heck, ein „Halbjude“, wie die Nazis sagten. Dass so viele Juden ausgerechnet das Französische Gymnasium besuchten, hatte seinen Grund, wie auch dass es hier viele Ausländer gab, in meiner Klasse die Söhne des norwegischen und des irakischen Gesandten. Die Sprache der Diplomaten war damals Französisch, und die schickten ihre Kinder hierher – ein wunderbarer Schutz für die Schule. Denn vor den Ausländern, vor allem den Diplomaten, wollte man sich nicht als Barbar zeigen.


Wie war es, im Krieg zur Schule zu gehen?
Ihr werdet lachen: Es war schön! Es war schöner als das Leben „draußen“. Das bestand aus Anstehen, nächtlichem Bombenhagel, Luftschutzkellermief, als Hitlerjunge auf den Straßen marschieren und laute Lieder singen und so weiter. Wer siebzehn war, wurde zum Arbeitsdienst eingezogen, und mit achtzehn kam man zum Militär. Nur die Jüngeren und die Mädchen und die Halbjuden – wir überlebten sozusagen. Und wir fühlten uns in der Schule wohl und geborgen. Nicht das ständige Gedröhn, die Hass- und Siegesreden, die aus Lautsprechern auf öffentlichen Plätzen kamen.


Sind Schulkameraden von Ihnen gefallen?
Ja. Zunächst einmal in den Klassen über uns. Der erste hieß Volker Niemeyer. Sein Tod ist mir besonders nahegegangen. Wir Kleinen kamen mit den Großen im Ruderclub des FG zusammen. Die Kleinen, die Leichtgewichte, steuerten und die Großen ruderten. Hierbei wurde Volker Niemeyer mein Freund. Er fiel in der allerersten Kriegszeit.

 

Mehr über die Geschichte des Französischen Gymnasiums:
während des Ersten Weltkrieges >>>
während des Zweiten Weltkrieges >>>

Interview: Alina, Anastasia, David und Sidney
Zeichnung: David
Text, Zeichnungen und Fotos © Grand méchant loup | Böser Wolf